Butterwecks Diarium

18.7.
Wie Brigitte Bierlein ihre Sternstunde verpasste

Jetzt haben wir sie also, die Frau von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission. Macron hat Europa einen schlechten Dienst erwiesen, als er sie vorschlug. Vor allem deshalb, weil er dabei auf die Hilfe von Staaten mit zweifelhafter Demokratie angewiesen war und sie auch im Europäischen Parlament nur mit deren Hilfe gewählt werden konnte. Aber nicht zuletzt auch deshalb, weil eine so schwache, dafür eminent ehrgeizige, der Mehrheit der Europäer völlig unbekannte Kandidatin völlig ungeeignet ist, das Vertrauen der EU-müden Europäer in die EU zu stärken.
Macron hat es wieder einmal geschafft, die deutsch-französische Hegemonie durchzusetzen. Die Verhandlungsrunde war todmüde und die Verhandler wurden daheim gebraucht – wohl einer der Hauptgründe dafür, dass van der Leyen so bereitwillig akzeptiert wurde. Die Regierungschefs ließen sich überrumpeln. Österreichs Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein hingegen hat die historische Chance Österreichs und ihren einzigen großen internationalen Auftritt verpasst. Die Ablehnung der Spitzenkandidaten, die festgefahrene Situation, die allgemeine Ratlosigkeit, die übermüdeten Sitzungsteilnehmer bildeten eine offene Situation, in der etwas Neues hätte gewagt werden können und Brigitte Bierlein wäre die ideale Person gewesen, die Versammlung aufzuwecken.
Sie hätte sofort Einspruch erheben sollen, als Macron Frau van der Leyen für das Amt der Kommissionspräsidentin vorschlug. Sie hätte zum Beispiel sagen können: Ist das Ihr Ernst? Meinen Sie wirklich, den kleinen EU-Ländern nach dem Luxemburger Jean-Claude Juncker die Vertreterin einer der beiden EU-Großmächte zumuten zu können? Erkennen Sie nicht die Symbolkraft einer solchen Personalie? Wollen Sie wirklich, dass auch noch der ärmste portugiesische Schafhirte oder österreichische Hilfsarbeiter zu dem Schluss gelangt, dass in der EU Frankreich und Deutschland das Sagen und die Kleinen immer weniger zu reden haben und zu den Populisten oder gleich zu den ganz Rechten überläuft? Wissen Sie noch, was Sie tun?
Haben Sie nicht begriffen, dass diejenigen, die diese Funktion auf keinen Fall bekommen sollten, eben genau ein Deutscher oder Franzose sind, beziehungsweise eine Französin oder Deutsche? Sehen Sie nicht, dass noch mehr Europäer diesem Europa den Rücken zukehren werden, wenn eine Deutsche Kommissionspräsidentin wird, noch dazu eine ihnen kaum bekannte, nichts sagende, blasse Politikerin, die niemand mit Europa in Verbindung gebracht hätte, bevor Sie sie ins Spiel brachten?
Sicher hätte Brigitte Bierlein es viel höflicher und diplomatischer sagen müssen, wenn sie es denn überhaupt gesagt und einen Österreicher, zum Beispiel Franz Fischler, vorgeschlagen hätte. Er wäre zwar mit seinen 72 Jahren nicht zu alt, um dieses Amt wenigstens eine Funktionsperiode auszuüben und mit seinem Insiderwissen als ehemaliges Kommissionsmitglied, andererseits aber in dieser Hinsicht nur mit Heinz Fischer vergleichbarer Grand Old Man seines Landes, der ideale Kandidat gewesen. Aber er wäre ja nur ein Beispiel dafür gewesen, dass es auch andere Möglichkeiten gab.
Wer immer von einem kleinen EU-Land in diesem Moment ins Spiel gebracht worden wäre, hätte die Versammlung aufgeweckt und veranlasst, über Macrons Vorschlag kritischer nachzudenken und sich auf die Suche nach einer Persönlichkeit ähnlicher Statur in einem der die EU nicht dominierenden Länder zu begeben. Genau dies hätte nämlich von Anfang an geschehen müssen, wenn den Regierungschefs die Akzeptanz der EU wichtig ist. Verpasst, vorbei.

15.6.
Sätze, Sprüche, Sager
„Aber die Opposition, wie vage, wie gehaltlos, wie schwach, wie ohnmächtig zeigte sie sich bei dieser Gelegenheit! Sie wußte nicht, was sie wollte, sie mußte das Bedürfnis der Reform eingestehen, konnte nichts Positives vorschlagen, war beständig im Widerspruch mit sich selber und opponierte hier, wie gewöhnlich, aus blöder Gewohnheit des Oppositionsmetiers. Und dennoch würde sie, um letzterm zu genügen, leichtes Spiel gehabt haben, wenn sie sich auf das hohe Pferd der Idee gesetzt hätte, auf irgend eine generöse Rosinante der Theorienwelt, statt auf ebener Erde den zufälligen Lücken und Schwächen des ministeriellen Systems nachzukriechen und im Detail zu chikanieren, ohne das Ganze erschüttern zu können.“
Heinrich Heine, 1843

5.6.
Gab es wirklich keine Alternative?
Keine österreichische Regierung wurde mit solchen Vorschusslorbeeren überhäuft. Man kannte noch nicht einmal alle Namen, schon wurden sie als „Vertreter des österreichischen, um nicht zu sagen, altösterreichischen Beamtenethos“ idealisiert, womit Hans Rauscher im Standard nur dem Ausdruck gab, was in diesen Tagen kein kleiner Prozentsatz der Österreicher, die über Politik nachdenken, denkt. Die drei, deren Namen schon bekannt waren, waren noch nicht ernannt und schon schwebte über ihnen, wer dächte da nicht an den Sektionschef Tuzzi im Mann ohne Eigenschaften, der Nimbus der kakanischen „Hochbürokratie, die dafür sorgt, dass die Blödheiten und Leidenschaften der politischen Besetzungen nicht zu viel Schaden anrichten.“ Ein ganzes Land, konnte man meinen, sei dem Zauber der „qualitätvollen Persönlichkeiten, abseits von den Blendern, Schreihälsen, Parteifunzis, Inkompetenzkönigen und Korruptionssüchtlern“ verfallen. Hatte sie noch gar nicht, die Beamtenregierung, und wollte sie schon für immer behalten.
Alles richtig gespürt, alles wunderschön gesagt, aber deprimierend als leider korrekter Ausdruck einer Zeitstimmung, die sich angesichts einer ungeliebten Wirklichkeit wieder einmal in die Träume von einer heilen Welt flüchtet, an die sie längst nicht mehr glauben kann. Österreich, und leider noch so manches andere Land, erlebt die krachende Widerlegung der Behauptung, jedes habe die Regierung, die es verdient. Was wir eineinhalb Jahre lang hatten, war die Regierung, die der kleinere Teil der Wähler verdiente. Für die anderen hieß es: Mitgefangen, mitgehangen. Und nun? Nun geht die Neuauflage von Türkis-Blau um als Gespenst, und es ist alles andere als unwahrscheinlich, dass es, bei entsprechendem Wahlausgang, aus dem Grabe steigt,
Ja, da sei Gott vor. Aber auf den kann man sich so wenig verlassen wie auf die politische Vernunft von Sebastian Kurz. Er hat die längst überwunden geglaubte christlichsoziale Urangst vor der Sozialdemokratie und allem, was Rot ist, vom Misthaufen der Weltgeschichte geholt und für seine Zwecke adaptiert. Und es sieht nicht so aus, als hätte er etwas gelernt.
Es hätte eine bessere Alternative zur heftig gepriesenen Beamtenregierung gegeben. Österreich verfügt auch in der Politik noch immer über vertrauenswürdige, qualitätvolle Persönlichkeiten mit der Fähigkeit, für Stabilität zu sorgen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg. Für eine Regierung aus Personen aller Parlamentsparteien außer der FPÖ hätte es sehr viel Mut gebraucht. Aber sie hätte die notwendige Mehrheit gefunden und die Geschäfte weiterführen können, ohne sich vor einer Abwahl fürchten zu müssen. So, wie die Beamtenregierung.
Mit einem Unterschied. Sie könnte einem Land im Wahlkampf Kooperationsfähigkeit vorführen. Vor allem die Kooperationsfähigkeit der beiden großen Lager, deren Zusammenarbeit Sebastian Kurz jäh unterbrach und die er offenbar um keinen Preis will. Davon wäre in den nächsten Monaten etwas ausgestrahlt. Ach hätte, bei allem Glück, dass wir ihn haben, Van der Bellen doch Heinz Fischer und Franz Fischler gebeten, bekniet, beschworen, beim Portepee gepackt, an einem solchen Projekt mitzuwirken. Wir könnten dem September etwas ruhiger entgegensehen.

26.5.
Sätze, Sprüche, Sager
„Ist es nicht die hoffnungsloseste und toteste aller Gewissheiten, unter einer Nation zu leben, die durch Schaden dümmer wird?“
Karl Kraus 1920, gefunden im Standard vom 25.5.

24.5.
Sebastian Kurz ruft Pamela Rendi-Wagner an, um ihr vor der öffentlichen Verlautbarung die Namen der neuen Minister mitzuteilen. Und er versäumt nicht, ihr unter die Nase zu reiben, dass er es nicht von sich aus tut, sondern dass ihn der Bundespräsident zu diesem Anruf veranlasst hat. Dieses Detail ist ein weiteres starkes Indiz dafür, dass Hans Rauscher im gestrigen Standard mit seiner düsteren Vermutung, dass Kurz eine weitere Türkis-Blau-Koalition anpeilt (wenn es der Wähler zulässt), richtig liegt. Die Konsequenz daraus: Nicht das Kabinett Kurz, sondern ein erfolgreiches Misstrauensvotum bietet die Garantie für politische Stabilität in den nächsten Monaten. Offenbar denkt Sebastian Kuz keine Minute an die Möglichkeit von Türkis-Rot und an mögliche Abstriche von seiner Agenda. Welchen Schaden er noch anrichten kann, wenn er bis zu den Wahlen im Amt bleibt, welche Weichen in die von der Zusammenarbeit der demokratischen Lager wegführende Richtung er noch stellen kann, ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Er gehört weg, und zwar sofort. Heinz Fischer, hört man, sei für den Kanzlerposten in einer Übergangsregierung nicht zu haben. In diesem Fall plädiere ich für Franz Fischler.

Sätze, Sprüche, Sager
„Eines steht unverbrüchlich fest: alle Österreicher, in welchem Parteilager sie standen, waren in diesen zwei Jahrzehnten nichts anderes als Österreicher.“
Bundeskanzler Leopold Figl am 9. Mai 1946 zum ersten Jahrestag der Befreiung im Österreichischen Nationalrat

22.5.
Ich frage mich, warum der sonst so gescheite ORF-Politologe Peter Filzmaier regelmäßig auf die Abschaffung des Pflegeregresses zurückkommt, wenn er vor Wahlzuckerln warnt. Diese Maßnahme hat viele Familien vor unerträglichen Lasten bewahrt. Die Finanzierungsprobleme einiger Bundesländer beweisen, dass sich die Regierungsparteien in „mormalen Zeiten“ schwerlich dazu aufgeschwungen hätten, obwohl sie überfällig war. Vielen Betroffenenen wird die Abschaffung des Pflegeregresses als die bedeutendste Sozialleistung der Rot-Schwarzen Koalition in Erinnerung bleiben.

Sätze, Sprüche, Sager
„Der Herr Bundeskanzler wird alles machen, um etwas zu tun!“
Andreas Rudas 1997 nach der Ernennung von Viktor Klima zum Regierungschef

21.5.
Wieso lese ich auch in den Qualitätszeitungen ständig, die Wähler hätten 2017 Türkis-Blau zur Mehrheit verholfen? Haben sie das wirklich? Am 15. Oktober 2017 bekam die ÖVP 31,47, die SPÖ 26,86 und die FPÖ 25,97 Prozent der Stimmen. Damit wollten, wie die Dinge nun einmal lagen, 58,33 Prozent eher die Fortsetzung der Großen Koalition und 57,44 Prozent eher Schwarz-Blau. Eine ganz knappe Mehrheit von weniger als einem Prozent für ÖVP und Rot, eine ganz knappe Minderheit für ÖVP und Blau. Die ÖVP-FPÖ-Regierung war eine von zwei Möglichkeiten. Daran sollten wir uns gerade jetzt wieder erinnern. Und die seriösen Zeitungen sollten vorsichtiger mit Formulierungen umgehen, welche die Regierung, die wir für den Moment zum Glück los sind, als Ergebnis einer eindeutigen Wählerentscheidung erscheinen lassen.

20.5.19
Gestern in der Sendung Im Zentrum. Es geht um Strache und das Skandalvideo. Walter Rosenkranz von der FPÖ spricht von einer Verletzung der Privatsphäre. Drei Oppositionspolitikerinnen hören es, keine stellt ihm die Frage, die sofort hätte gestellt werden müssen: Herr Rosenkranz, rechnen Sie ein Treffen, in dem österreichische Politiker mit einer russischen Oligarchin, echt oder nicht, über geheime Parteifinanzierung, die Zuschanzung öffentlicher Aufträge, den Kauf der Kronen-Zeitung und die Manipulation der öffentlichen Meinung verhandeln, tatsächlich der Privatsphäre zu? Ein aufgelegter Elfer. Leider verpasst.

Sätze, Sprüche, Sager
„Ich glaube, die Entwicklung der Menschenrechte verläuft in einem Auf und Ab. Das Tal ist jetzt aber schon sehr lang.“ – „86 Menschen besitzen heute so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Das unterminiert den demokratischen Zusammenhalt.“
Manfred Novak, Völkerrechtler, in Die Furche vom 10.1.19

7.5.18
Andreas Mölzer und Walter Rosenkranz auf der einen Seite, Willi Mernyi, Doron Rabinovici und Heidemarie Uhl auf der anderen gestern Im Zentrum. Zeitweise kaum erträglich. Das alte Dilemma. In unserer offenen Gesellschaft kann man, darf man das Gespräch nicht verweigern. Man muss sich hinsetzen mit Leuten, mit denen man sich, wie die Dinge liegen, sonst nie zusammensetzen würde. Mit Nazis und Antisemiten. Oder mit Leuten, die kein Problem damit haben, sich mit Nazis und Antisemiten gemein zu machen. Wer schon so lange der FPÖ angehört, müsste ja sehr naiv sein, um ihm abnehmen zu können, dass er dort die Berührung mit Nazis und Antisemiten vermeiden konnte und dass ihn die ernsthaft stört. Rosenkranz und Mölzer bewiesen, auf welcher Seite eines Grabens sie stehen, über den hinweg auch zwei Menschenalter nach der Befreiung ein Gespräch weder möglich noch sinnvoll ist. Zwischen Demokratie und Humanität auf der einen Seite und einem politischen Lager, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Sammelbecken der unverbesserlichen Nazis konstituierte, ist offensichtlich nach wie vor nur eine klare Gegnerschaft sinnvoll und möglich. Die beiden haben es bewiesen, und wenn der Abend etwas gebracht hat, ist es, sollte jemand noch daran gezweifelt haben, diese Erkenntnis.
Da behaupten zwei, mit dem Antisemitismus nichts, aber auch schon gar nichts am Hut zu haben. Wollen allen Ernstes, dass man ihnen ihr Entsetzen über die Naziverbrechen abnimmt. Und dann widerlegt sich der eine, Rosenkranz, selbst mit einer Körpersprache und einer dreisten Aggressivität, wie wir sie von den alten Nazis und Neonazis kennen. Beide wollen uns davon überzeugen, dass die FPÖ entschlossen sei, ihren alten Naziballast abzuwerfen, dessen Vorhandensein abzustreiten ihnen schwer fallen würde, weshalb sie es gar nicht erst versuchen. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, wäre ihnen Michael Köhlmeiers Rede zu Herzen gegangen und sie hätten sich bei ihm bedankt. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, wären sie der Gedenkveranstaltung in Mauthausen aus Taktgefühl von selbst ferngeblieben und hätten versichert, all ihr Bemühen sei darauf gerichtet, sich einer solchen Einladung würdig zu erweisen und sie würden um Geduld bitten. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, würde Rosenkranz an der Seite Mernyis, Rabinovicis und Uhls die Haltung bekämpfen, die er heute einnimmt, und Mölzer würde, wie einst der große katholische Publizist und geläuterte ehemalige Antisemit Friedrich Funder, den Herrgott bitten, in der Ewigkeit nicht noch einmal alles lesen zu müssen, was er geschrieben habe.
Sie sind, was sie waren. Darauf, was sie waren, darf man aus ihrer langjährigen Zugehörigkeit zu einer Partei schließen, in der es von Nazis und Antisemiten wimmelt(e). Und sie haben sich nicht geändert. Das haben sie, von Willi Mernyi, Doron Rabinovici und Heidemarie Uhl fast durchgängig mit eiserner Ruhe vorgeführt, gezeigt.
Ja, und übrigens. Was hat denn H. C. Strache nun wirklich bei der Kranzniederlegung beim Republik-Denkmal bei der Wiener Abertina gesagt? In der Zeit im Bild war es zu hören: „Ich verneige mich vor all jenen, die in dieser Zeit ein furchtbares Schicksal tragen mussten und schon die Erinnerungen an diese Zeit schlagen unvergesslich tiefe Wunden.“ Fast mit den gleichen unverbindlichen Worten verneigten sich schon in der frühen Nachkriegszeit FPÖ-Politiker (leider nicht nur sie), wenn sie sich um keinen Preis expressis verbis vor Juden, Nazigegnern, Roma und so weiter verneigen wollten. Solche Worte kann jeder verstehen, wie er will. Wer will, kann alles mitdenken, bis hin zu den in Oradour-sur-Glane tätigen Männern des SS-Panzergrenadier-Regiments 4 Der Führer. Genau diese Art von Verneigungen ist längst ein Code geworden, fast wie 88.

Ist die Demokratie doch noch nicht verloren?

Der Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach begab sich auf eine europäische Rundreise der besonderen Art. Nämlich auf die Suche nach Initiativen, mit denen der Demokratie wieder auf die Sprünge geholfen werden soll. Schlecht genug geht es ihr ja. Immer mehr Menschen zweifeln an ihrer Überlebensfähigkeit. „Starke Männer“ finden bedenklichen Zulauf und die demokratischen Parteien tun alles, um den Rest des in sie gesetzten Vertrauens auch noch zu verspielen.
Dass die Demokratie eine Erneuerung braucht, wenn sie gegen die äußere und äußerste Rechte und gegen die Populisten bestehen soll, ist fast schon eine Binsenweisheit. In dieser Situation ist es schon erstaunlich, dass man von Ansätzen zu einer solchen Erneuerung, wo diese bereits existieren, wenig bis nichts erfährt. Gehören sie denn nicht auf die Titelseiten der Zeitungen? Das Buch Die freundliche Revolution – Wie wir gemeinsam die Demokratie retten von Philippe Narval ist in dieser Hinsicht eine kleine Offenbarung.
Wer hätte gedacht, dass der zum Glück mittlerweise in Bedeutungslosigkeit versunkene Ewald Stadler bereits seinen ersten Denkzettel als Lokalpolitiker empfangen hatte, noch bevor er als FPÖ-Politiker zur Kenntnis genommen wurde? In Mäder, einer 4000-Seelen-Gemeinde in Vorarlberg, hatte sich der neue Bürgermeister Rainer Siegele mit einer konsequent ökologischen, konsequent durch Bürgerbeteiligung abgesicherten Politik gegen ihn durchgesetzt, nachdem sein Vorgänger vor Stadlers populistischen Attacken kapituliert hatte. Heute wird in Mäder Selbstbestimmung bereits im Kindergarten eingeübt. Lebendige, schon im Vorschulalter eingeübte Demokratie als Rezept gegen Rechts: eine ermutigende Erfahrung im lokalen Rahmen.
In Irland, wo es keine Regierung mehr gewagt hatte, die Themen gleichgeschlechtliche Ehe und Schwangerschaftsabbruch, die die Gesellschaft spalteten, anzufassen, verhalf ein neues Verfahren der partizipativen Demokratie dem Gesetzgeber zur Rückendeckung für eine Lösung. Der Politologe David Farrell brachte das bereits in der kanadischen Provinz British Columbia erprobte Modell der „Deliberativen Demokratie“ ins Spiel. In der Wikipedia lesen wir: Deliberation, aus dem Lateinischen, Beratschlagung, Überlegung. „Die deliberative Demokratie betont öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Teilhabe der Bürger an öffentlicher Kommunikation und das Zusammenwirken von Deliberation und Entscheidungsprozess. Der Begriff deliberative Demokratie bezeichnet sowohl demokratietheoretische Konzepte, in denen die öffentliche Beratung zentral ist, als auch deren praktische Umsetzung. Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist der öffentliche Diskurs über alle politischen Themen, der auch als Deliberation bezeichnet wird. … Der Begriff deliberative Demokratie wurde von Joseph M. Bessette in dem 1980 erschienenen Buch Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government geprägt und in dem 1994 erschienenen Buch The Mild Voice of Reason weiter ausgearbeitet. Wichtige Theoretiker deliberativer Demokratie sind außerdem Jürgen Habermas und John Rawls…
Der Probelauf, bei dem an einem Wochenende im Juni 2011 unter dem Motto „We the Citizens“ hundert per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, von einem Moderatorenteam begleitet, über politische Reformen und Steuern berieten, konnte nur realisiert werden, weil ein irischstämmiger amerikanischer Mäzen die Kosten übernahm.
Die Ergebnisse waren ebenso überraschend wie zuvor in Kanada. Die Versammlung hatte sich, wissenschaftlich begleitet, nicht, wie erwartet, für Steuersenkungen, sondern für die Beibehaltung der Steuerquote ausgesprochen und sinnvolle Vorschläge für politische Reformen gemacht. Damit war erwiesen, dass Bürgerversammlungen sehr wohl zur besseren Entscheidungsfindung in der Gesellschaft beitragen können, wenn auch die psychologische Begleitung stimmt und aus der Unkenntnis gruppendynamischer Vorgänge resultierende Fehler vermieden werden.
Trotzdem bleibt es ein kleines Wunder, dass Farrell und seine Mitstreiterin Jane Suiter alle Parteien dazu bewegen konnten, die Bürgerbeteiligung noch im Wahljahr 2011 in der einen oder anderen Form in ihre Wahlprogramme aufzunehmen und dass die „Convention of the Constitution“ bereits im Frühjahr 2013 stattfand. Diesmal berieten 66 per Zufallsprinzip ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus allen Schichten gemeinsam mit 33 Abgeordneten aller Parteien mehrere Wochen lang acht die überfällige Verfassungsreform betreffende Themen, von der Herabsetzung des Wahlalters bis zur „Ehe für alle“. Die von den Medien als verrückte Idee abgetane Bürgerversammlung sprach sich für eine umfassende Verfassungsreform, die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und für eine Neuauflage der Bürgerversammlung nach den nächsten Parlamentswahlen aus und löste sich auf. Am 22. Mai 2015 stimmten in einer Volksabstimmung, die ohne die Convention nie zustande gekommen wäre, 62 Prozent der Wahlbeteiligten für die gleichgeschlechtliche Ehe. Philippe Narval: „Niemals davor hatte ein Land seine Verfassung auf Basis von Beratungen durch per Los ausgewählte Bürger aus allen sozialen Schichten und Landesteilen geändert. Das Misstrauen gegenüber dem Verfahren begann zu bröckeln.“
Seine Feuerprobe bestand es von Herbst 2016 bis Frühjahr 2017. Der UN-Menschenrechtsrat hatte die irische Abtreibungs-Gesetzgebung als „grausam, unmenschlich und erniedrigend“ verurteilt. Aber erst die „Citizen Assembly“, in der 99 per Los bestimmte Bürgerinnen und Bürger – diesmal ohne Politiker – über fünf Themen, darunter die Abtreibungsfrage, berieten, verhalf der Regierung zur nötigen Rückendeckung, um ein Gesetz zu ändern, das die Gesellschaft polarsierte. In der Volksabstimmung vom 25. Mai 2018 stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 64 Prozent 66 Prozent der Teilnehmer für die von der Bürgerversammlung vorgeschlagene Verfassungsänderung.
Unter spezifischen Bedingungen entwickelte Problemlösungen sind selten anderswo eins zu eins umsetzbar. Das in Irland entwickelte Modell der Bürgerbeteiligung jedoch erscheint allgemein anwendbar und geeignet, die Situation zu entschärfen und einer Lösung näherzukommen, wenn emotional hochbesetzte Themen eine Gesellschaft spalten. Was die Bürgerversammlung vorschlägt, ist demokratisch abgesichert und stärkt der Politik den Rücken für Entscheidungen, die einen Mut erfordern, den sie sonst nicht aufgebracht hätte.
Wieso musste erst Narval kommen? Wieso wird die Deliberative Demokratie nicht längst auch in Österreich erörtert? Vielleicht wäre mit ihr die SPÖ-ÖVP-Koalition zu retten gewesen, hätte wieder Tritt fassen und Überzeugungskraft gewinnen können, und die Herbstwahlen 2017 wären anders ausgegangen. Themen für diese revolutionär neue Art der demokratischen Entscheidungsfindung hätte es auch bei uns genug gegeben.
„Die Erfahrungen mit der Bürgerversammlung in Irland,“ schreibt Philippe Narval, „zeigen, dass dieses deliberative Verfahren ausgereift genug ist, um auch auf europäischer Ebene Anwendung zu finden. Könnte nicht eine permanente europäische Bürgerversammlung oder ein europäischer Bürgerrat, wie auch immer man es nennen mag, mit einer alle zwei Jahre wechselnden Zusammensetzung wertvolle Politikempfehlungen abgeben, die der Kommission als Arbeitsgrundlage dienen könnten. Der Auftrag einer solchen Versammlung, die sich wie in Irland aus einer Gruppe per qualifizierter Zufallsauswahl nominierter Bürger zusammensetzt, könnte bewusst darin liegen, die europäische Politik auf ihre Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen. Hätte nicht ein Europäischer Bürgerrat, abseits des Erwartungsdrucks, dem die Politik permanent unterliegt, eine Chance, die großen Fragen der Zukunft zu stellen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie wollen wir mit der Umwelt und unserem Planeten umgehen? Welchem Zweck dient die Wirtschaft? Was sichert ein friedliches Zusammenleben mit unseren Nachbarn?“
Die Macht engagierter Bürger, die entschlossen sind, einen Anschlag auf die Demokratie abzuwehren, lernte Narval in der Schweiz kennen. Die berühmte direkte Demokratie hatte 150 Jahre lang funktioniert, bis der milliardenschwere Christoph Blocher vorführte, welches Unheil man anrichten kann, indem man eine unbedeutende Kleinpartei wie die SVP in eine aggressive rechtspopulistische Kraft umformt, Zeitungen zu seinem persönlichen Sprachrohr macht und ein altes demokratisches Instrument wie den direkten Volksentscheid zum Werkzeug der Parteipolitik umfunktioniert.
Die „Ausschaffungsinitiative“ zur Ausweisung krimineller Ausländer war 2010 von den Wählern angenommen worden. Nun sollte mit einer Durchsetzungsinitiative auch der Ermessensspielraum der Richter verschwinden, indem das Parlament gezwungen wurde, den Text der Initiative auf Punkt und Beistrich als Gesetz zu beschließen, obwohl er den Menschenrechten widersprach und die Richter zu Urteilsautomaten degradiert werden sollten. Hybris pur, ein Frontalangriff auf Rechtsstaat, Menschenrechte und richterliche Unabhängigkeit.
Die SVP hatte wenige Monate zuvor ihr bestes Ergebnis eingefahren. Die anderen Parteien waren finanziell am Ende. Die Medien debattierten über die angebliche Ausländerkriminalität und nicht über den Rechtsstaat. Die Zivilgesellschaft starrte auf Blocher und die SVP wie das Kaninchen auf die Schlange. Eine erste Meinungsumfrage ergab 66 Prozent Zustimmung.
Bloß mit den Liberos hatte die SVP nicht gerechnet. Sie hatten sich nach dem 9. Februar 2014 zusammengefunden, dem Tag, an dem die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ mit einer hauchdünnen Mehrheit von 0,3 Prozent angenommen worden war. Um sie konsequent umzusetzen, hätte die Schweiz das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU und mehrere weitere Abkommen aufkündigen müssen. Das bunt zusammengesetzte Grüppchen wollte etwas Konkretes dagegen tun, dass ein Mann und eine Partei das einst so weltoffene Land mehr und mehr zumauerten. So entstand eine überparteiliche Plattform, die auch die Zusammenarbeit mit der Politik suchen und sie mit wissenschaftlich abgesicherten Argumenten umterstützen sollte. Nur mit fachlicher Expertise (zwei Mitglieder waren Assisenten am Berner Institut für öffentliches Recht) und unbedingter Verlässlichkeit aller vorgelegten Fakten und Argumente würde es möglich sein, die von der SVP okkupierte Meinungshoheit wieder zu erobern.
Sie waren belächelt, aber auch als erfrischender Neuzugang in der politischen Landschaft wahrgenommen worden, als mit der Durchsetzungsinitiative der Ernstfall eintrat. Da alle anderen kapitulierten, wurden die Liberos zum letzten Aufgebot der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde. Mit von Amnesty International zur Verfügung gestellten 10.000 Franken als Startkapital gegen ein auf 3,5 bis 4 Millionen geschätztes SVP-Budget konnten sieben junge Leute in den verbleibenden drei Monaten die Stimmung drehen. Sie standen nicht auf der Straße, sondern saßen am PC, warben um Spenden, ließen keine Behauptung der Gegenseite und kein Facebook- oder Twitter-Posting unbeantwortet, bearbeiteten die Medien und motivierten „Online Warriors“, die ihrerseits weitere „Online Warriors“ für eine Kampagne anwarben, an der man sich auch am Abend oder in der Nacht zu Hause am Computer beteiligen konnte.
Sie vermieden jede persönliche Herabsetzung des Gegners, doch einer an zwei Millionen Haushalte verschickten SVP-Werbung folgte bereits am nächsten Tag die Aufzählung der fünf größten darin verbreiteten Lügen. Der Slogan „Der Richter als Automat, so etwas gibt es sonst nur in der Scharia“ schaffte es in die Schlagzeilen. Viele, die beabsichtigt hatten, der SVP-Initiative zuzustimmen, begriffen erst jetzt, dass ein von einem Jugendlichen gestohlener Apfel die gleichen Konsequenzen gehabt hätte wie ein Raubüberfall, nämlich die Abschiebung eines womöglich in dritter Generation in der Schweiz lebenden Menschen. Zuletzt redete die Schweiz über die Gegenkampagne und nicht mehr über die SVP-Initiative. Diese wurde am 28. Februar 2017 bei einer Wahlbeteiligung von 63,7 Prozent mit 58,9 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. In einer Welt, in der so etwas möglich ist, haben Vernunft, Verantwortungsgefühl und persönliches Engagement ohne persönlichen Vorteil noch nicht ausgespielt.
Doch auch in diesem Fall gilt: Gute Ideen und überzeugende Beispiele retten weder die Welt noch die Demokratie. Man muss sie auch kennen und anwenden.
DIE FREUNDLICHE REVOLUTION – WIE WIR GEMEINSAM DIE DEMOKRATIE RETTEN von Philippe Narval. Molden Verlag, Wien 2018, 160 Seiten, 21 Euro (Ö)

Der Wein des Vergessens wird zum Djinn aus der Flasche

Bernhard Herrman und Robert Streibel recherchierten die Vergangenheit der Winzergenossenschaft Krems

Jahrzehnte ist‘s her. In der Pause einer Historikertagung fragte ich einen prominenten deutschen Univ-Prof, warum damals über die unbedeutendsten Details des Dritten Reiches Dissertationen geschrieben wurden, aber kaum eine über die Nicht-Aufarbeitung der Nazizeit nach dem Krieg. Er hielt mich – ich hatte gerade ein Referat über den Wert des Gerichtssaalberichtes als historische Primärquelle gehalten – wohl für Seinesgleichen, denn er meinte: „Ach, Herr Kollege, ein solches Thema kann ich nur einem besonders guten Studenten geben, und gerade dem will ich doch nicht die Karriere versauen!“

Peng. Da hatten wir‘s. Die Deutschen waren im Verdrängen und Vergessen nicht schlechter als wir, bloß die Abfolge der Phasen sah etwas anders aus. In Österreich braucht man nur in den Zeitungen der frühen Nachkriegszeit zu stöbern, um auf eine stolze Anzahl bis heute bekannter Unternehmen zu stoßen, die entweder in den Händen ihrer Arisierer blieben – oder in die falschen Hände fielen, denn die Gierigen waren auch 1945 zur Stelle. Es genügte, sich der Rückgabe des geraubten Gutes zwei, drei Jahre lang zu entziehen – später brauchten sich die Diebe und Räuber keine großen Sorgen mehr zu machen. Das alles wurde schnell unter den Teppich gekehrt, wo es Ruhe gab, bis der Teppich sich endlich zu wellen und aufzuquellen begann.

Vor diesem Hintergrund spielt der Roman Der Wein des Vergessens von Bernhard Herrman und Robert Streibel. Was sie uns servieren, hätte eigentlich längst getrunken werden sollen. Es hat eine deutliche Note von Djinn aus der Flasche und einen langen Abgang. Dieser Roman ist nämlich kein Roman, sondern ein Herrmans geerbten Briefen, Tagebüchern, Dokumenten und Fotos, alles in einer versperrten Metallkassette, und den zusätzlich rercherchierten Fakten entlang geschriebener Tatsachenbericht.

Es waren einmal zwei Freunde, ein schwules Paar, würde man heute sagen, doch das hielten sie wohlweislich streng geheim. Ihre Liebe war von einer Stärke und Beständigkeit, wie sie uns sonst eher nur im Groschenroman begegnet. Der eine, Paul Robitschek, war ein seriöser jüdischer Weinhändler, der österreichischen Wein in alle Welt exportierte und Eigentümer der berühmten Weinlage Kremser Sandgrube nebst Kellerei. Der andere, August Rieger, der „Herr Baron“, war ein charmanter, aber windiger, etwas hochstaplerischer, auf großem Fuß lebender Typ mit riesigen Schulden, der gelegentlich vom Freund aus der Patsche gezogen wurde, und kein Jude. Die dritte im Bunde, Erszi Farkas, spielte fallweise die Anstandsdame.

Das Idyll wurde 1938 jäh gestört. Erszi brachte sich um, Robitschek floh zunächst nach Italien und weiter nach Frankreich und hielt sich mit Mühe und Not über Wasser. Rieger kam immer wieder mit seinen zurückgelassenen Sachen und Lebensmitteln zu ihm und da er Robitscheks Betrieb samt Sandgrube übernommen hatte, könnte die Geschichte als einer der selteneren Fälle enden, in denen Emigranten mit der Hilfe Anständiger wieder zu ihrem Eigentum kamen.

Wäre da nicht der Kremser Franz Aigner gewesen. Der träumte schon lang von der Gründung einer Winzergenossenschaft mit der Sandgrube nebst Keller als Herzstück und ihm als Chef. Und da er mitbekommen hatte, was niemand wissen sollte, vernaderte, auf Hochdeutsch: verpfiff er Rieger als Homosexuellen und Liebhaber eines Juden.

Auch die Häftlinge mit dem rosa Winkel an der Jacke, die Homosexuellen, starben zu Tausenden. Im Roman fällt auch Licht auf ein unterbelichtetes Thema: Der NS-Staat war alles andere als im Sinne der Nazis konsequent durchstrukturiert. In vielen Behörden, auch in der Polizei, hatten Nazigegner überlebt. Robitschek und Rieger hatten einen solchen Bekannten in der Wiener Polizei, und sehr viel Glück. Er kam zufällig dazu, als sie zum Verhör geführt wurden und konnte sie vor dem KZ bewahren. Rieger wuchs nach Robitscheks Flucht bei der Verteidigung von dessen Interessen über sich selbst hinaus, aber Robitscheks Betriebe waren nicht zu retten. Rieger überlebte den Krieg in Wien, Robitschek konnte, schwer angeschlagen, in Venezuela Fuß fassen. Er wurde nach dem Krieg teilweise entschädigt, wirklich entschädigt, wie üblich, nie.

Bis hierher eine von vielen solchen und ähnlichen Geschichten, bewegend erzählt, nicht ohne Schmalz, das hier seinen Platz hat, denn auch die Selbstzeugnisse der Liebenden sind alles andere als frei von Sentimentalität. Herausragend durch ihre Offenheit, die auch die Brüche und Abgründe nicht umgeht. Ein überaus lesenswertes Panorama denkwürdiger Schicksale aufrechter Menschen, deren noch einige mehr vorkommen. Brennende Aktualität könnte man – bis hierher – dem Buch freilich nicht bescheinigen. Zu groß ist die Zahl österreichischer Unternehmen mit einem fetten braunen Fleck in ihrer Chronik. Dazu sagen heute Millionen: Na und? Geschichte!

Und doch ist Der Wein des Vergessens ein Buch von brennender Aktualität. Die verdankt es dem Anruf von Franz Ehrenleitner, dem Geschäftsführer der Winzergenossenschaft Krems, beim Historiker Robert Streibel, der ihn mit drei e-mails um ein Gespräch gebeten hatte, um ihn über das Buchvorhaben und das Ergebnis der Recherchen zu informieren.

Ich gebe, was er „im Befehlston“ zu hören bekam, in voller Länge wieder, so, wie im Buch zitiert: „Lassen Sie uns endlich damit in Ruhe! Ich will Ruhe, ein für alle Mal! Wir haben darüber nichts zu sagen, ich will mich damit nicht beschäftigen, ich bin ein christlich denkender Mensch, ich habe viel Gutes getan, ich blicke in die Zukunft. Ich fordere Sie auf, uns in Ruhe zu lassen! Wenn Sie das nicht tun, werden wir unsere Schritte unternehmen! Wir blicken in die Zukunft. Wir sollten selbstbewusster sein, wir Österreicher. Immer schauen wir in die Vergangenheit. Ich weiß, dass alles für rechtens erklärt wurde, und das ist es. Wen interessiert das? Mich nicht. Es ist schon viel, dass ich Sie anrufe. Ich will mich nicht mit Ihnen treffen. Was soll das für einen Sinn haben? Warum? Ich habe dafür keine Zeit. Ich bin 1954 geboren. Wer gibt mir meine beiden Onkel zurück, die im Krieg gefallen sind? Mein Vater ist schwer krank aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, das ist emotional für mich. Es gibt keine Zeitzeugen, die wirklich wissen, wie es gewesen ist, aber ich sage Ihnen, ich werde mit Ihnen nicht sprechen und mich auch nicht mit Ihnen treffen, und kein Mitarbeiter der Winzer Krems wird mit Ihnen sprechen. Ich muss nicht über diese Dinge sprechen, mich interessieren auch keine Tätowierungen, auch wenn viele Menschen heute tätowiert sind. Und wenn ich nichts über die Homosexuellenehe sagen will – bin ich deswegen ein schlechter Mensch? Ich bin kein Politiker, ich muss nichts sagen und ich will nichts sagen. Manche Dinge kann ich nicht ändern, und wenn ein Erdrutsch in Chile ist, werden wir mit solchen Meldungen bombardiert.“

Und auf den Einwand, eine solche Gesprächsverweigerung könne doch die Winzer Krems in einem schlechten Licht erscheinen lassen: „Wir haben auch den Weinskandal überlebt und hatten gar nichts damit zu tun gehabt. Ich bin nicht verantwortlich für das, was passiert ist. Punkt! Aus! Lassen Sie uns in Frieden! Es geht doch immer um Wiedergutmachung, um Zahlungen! Das ist doch immer so, da müssen dann die Firmen zahlen. Lassen Sie uns in Frieden. Wen interessiert das heute?“

Das ist großartig! Das könnte stellenweise von Thomas Bernhard sein! So deutlich, so direkt, fast hätte ich gesagt: mit solcher geradezu literarischer Dichte, hat sich die Weltsicht, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind, noch selten deklariert. Und das, laut eigener Website, vom „Denker und Lenker“ eines international renommierten österreichischen Unternehmens und Träger des Ehrenringes der Sadt Krems. Da erfährt man, wie Schichten, auf die es ankommt, nach wie vor denken und sich selbst in solcher Position wieder trauen, es zu sagen. Das gehört, kommentiert, unbedingt in die Schulbücher!

Offenbar kamen die Winzer Krems doch noch drauf, was da passiert war und vergaben einen Forschungsauftrag zur Erhellung iher Geschichte. Und, politisch korrekt, wie man jetzt plötzlich ist, auch noch an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.

Zu spät. Und wirklich: Wozu noch?

DER WEIN DES VERGESSENS – Roman von Bernhard Herrman und Robert Streibel. Residenz Verlag, 2018. 254 Seiten, 24 Euro.

Wo Metternichs Geist noch weht

Sind Schriftsteller noch immer die Leute, die dem Staat umso lästiger werden, je besser es ihnen geht?

Ein neuer Finanzminister weckt Hoffnungen, wenn er mit der Absicht antritt, vieles anders und besser zu machen. Auch die österreichischen Schriftsteller dürfen jetzt hoffen. Ihre Behandlung stellt ein geradezu klassisches Beispiel für die ungerechte Behandlung einer Gruppe von Steuerzahlern dar.  Das österreichische Steuerrecht berücksichtigt nämlich, dass viele Erfinder oft jahrelang warten oder gar ein halbes Leben lang darben, bevor sie Geld für ihre Leistung sehen. Daher wird auf Einkünfte aufgrund selbst geschaffener patentrechtlich geschützter Erfindungen der halbe Steuersatz angewendet.

Der bedeutende österreichische Autor Milo Dor war alt, als ein Buch, das er als junger Mann gemeinsam mit Reinhold Federmann geschrieben hatte, endlich erscheinen konnte, und Federmann war längst tot. Dass Romane jahrelang herumliegen, ehe sie erscheinen, ist mehr oder weniger ihr Normalschicksal. Für Lyrik gilt das erst recht, sie bringt kaum Geld, und da Lyriker sowieso auch noch einen anderen Beruf haben müssen, sind sie für die Wahl ihrer literarischen Sparte doppelt gestraft, weil sie für ihre Mini-Honorare auch noch ihren vollen Spitzensteuersatz zahlen. Literatur hat, anders als manche Erfindungen, geringen volkswirtschaftlichen Nutzen, aber ihren kulturellen Wert und ihren Beitrag zum Ansehen des Landes wird wohl niemand abstreiten.

Da stellt sich schon die Frage: Warum nimmt das Steuergesetz Rücksicht auf die besondere Situation der Erfinder, auf die sehr ähnliche der Schriftsteller aber nicht? Dabei hatten diese den Hälftesteuersatz schon einmal ein paar Jahre lang. Er wurde dann aber wieder gestrichen.

Für die überwiegende Mehrheit der Autoren ist die Unregelmäßigkeit ihres Einkommens der Normalfall. Auch die Erfolgreichen leben oft zwischen ihren Erfolgen nicht nur zwei oder drei, sondern viele Jahre vom letzten Buch. Nach der Streichung des Hälftesteuersatzes für selbst geschaffene Urheberrechte wurde treuherzig erklärt, die Autoren dürften die Einkünfte eines guten Jahres ja auf drei Jahre verteilen. Das war nicht zuletzt auch ein Hohn auf die stolze Menge der Literatur, die erst in den Nachlässen zum Vorschein kommt und die beweist, dass die meisten Schriftsteller ohnehin nur für einen Teil ihrer Leistung entlohnt werden und den anderen Teil für die Nachwelt schaffen, unter ihnen etliche der Größten. Oder fürs Altpapier. Aber auch das ist notwendig in einem Beruf, in dem eben versucht und immer wieder versucht wird und nur das für geglückt Erachtete das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Der aber von der Steuer so behandelt wird wie kontinuierlich verdienende Manager oder Anwälte.

Übrigens war der Hälftesteuersatz für die Autoren wahrscheinlich sowieso nur ein Kollateralnutzen, weil offenbar weder bei dessen Einführung noch bei der Streichung primär an sie gedacht wurde. Ich hatte damals ein langes Gespräch mit einem hohen Herrn im Finanzministerium, weil der Hälftesteuersatz selbst in der Zeit, in der er den Autoren zugestanden wurde, nur dann in Anspruch genommen werden konnte, wenn die Einkünfte aus selbstgeschaffenen Urheberrechten ein Nebeneinkommen darstellten. Ich wollte wissen, warum diese Einschränkung nur für die Autoren gelte, nicht aber für die Erfinder. Der hohe Herr öffnete mir die Augen: Die Bestimmung sei die Erfindung von Ministerialbeamten gewesen, die nebenbei juristische Bücher schrieben.

So gesehen, war die Abschaffung sogar gerecht. Aber nur so gesehen.

Die Ungleichbehandlung von zweierlei geistiger Arbeit, des technischen Erfindergeistes und der Literatur, ist eines Metternich würdig, für den die Schriftsteller sowieso nur Leute waren, die umso lästiger wurden, je besser es ihnen ging. Möglicherweise denkt auch heute mancher so. Der Geist des Vormärz hat aber in einer modernen Demokratie nichts zu suchen. Damit ist der Gerechtigkeitssinn und das der heutigen Zeit entsprechende Denken eines neuen Ministers gefragt.

Dieser Beitrag erschien am 21. 2. 2018 in der Tageszeitung Die Presse

Wie Österreich 1938 einen Monat lang heile Welt spielte

Donnerstag, 10. Februar 1938. Österreich tanzt zum letzten Mal. Aber der „Frontball“, der Ball der Einheitspartei Vaterländische Front, tanzt auf dem Vulkan. Ovationen für Kurt von Schuschnigg. Nur ganz wenige wissen, dass Adolf Hitler den Kanzler ausgerechnet für den vierten Jahrestag des blutigen 12. Februar 1934 zu sich bestellt hat. „Wie Österreich 1938 einen Monat lang heile Welt spielte“ weiterlesen

Bitcoin, oder: Vom Leveraged Buyout der Vernunft

Die Internetwährung Bitcoin, lese ich auf der Website des Austrian Institute in einem Beitrag von Nikolaus Jilch, basiere „auf den Prinzipien der österreichischen Geldtheorie“ und bringe „heute die Ideen der alten Österreicher einer ganz neuen Generation näher“. Tatsächlich hat sich bereits Friedrich August von Hayek, einer der wichtigsten Ökonomen der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, für konkurrierende private Geldsysteme eingesetzt.

„Bitcoin, oder: Vom Leveraged Buyout der Vernunft“ weiterlesen