18.7.
Wie Brigitte Bierlein ihre Sternstunde verpasste
Jetzt haben wir sie also, die Frau von der Leyen als Präsidentin der EU-Kommission. Macron hat Europa einen schlechten Dienst erwiesen, als er sie vorschlug. Vor allem deshalb, weil er dabei auf die Hilfe von Staaten mit zweifelhafter Demokratie angewiesen war und sie auch im Europäischen Parlament nur mit deren Hilfe gewählt werden konnte. Aber nicht zuletzt auch deshalb, weil eine so schwache, dafür eminent ehrgeizige, der Mehrheit der Europäer völlig unbekannte Kandidatin völlig ungeeignet ist, das Vertrauen der EU-müden Europäer in die EU zu stärken.
Macron hat es wieder einmal geschafft, die deutsch-französische Hegemonie durchzusetzen. Die Verhandlungsrunde war todmüde und die Verhandler wurden daheim gebraucht – wohl einer der Hauptgründe dafür, dass van der Leyen so bereitwillig akzeptiert wurde. Die Regierungschefs ließen sich überrumpeln. Österreichs Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein hingegen hat die historische Chance Österreichs und ihren einzigen großen internationalen Auftritt verpasst. Die Ablehnung der Spitzenkandidaten, die festgefahrene Situation, die allgemeine Ratlosigkeit, die übermüdeten Sitzungsteilnehmer bildeten eine offene Situation, in der etwas Neues hätte gewagt werden können und Brigitte Bierlein wäre die ideale Person gewesen, die Versammlung aufzuwecken.
Sie hätte sofort Einspruch erheben sollen, als Macron Frau van der Leyen für das Amt der Kommissionspräsidentin vorschlug. Sie hätte zum Beispiel sagen können: Ist das Ihr Ernst? Meinen Sie wirklich, den kleinen EU-Ländern nach dem Luxemburger Jean-Claude Juncker die Vertreterin einer der beiden EU-Großmächte zumuten zu können? Erkennen Sie nicht die Symbolkraft einer solchen Personalie? Wollen Sie wirklich, dass auch noch der ärmste portugiesische Schafhirte oder österreichische Hilfsarbeiter zu dem Schluss gelangt, dass in der EU Frankreich und Deutschland das Sagen und die Kleinen immer weniger zu reden haben und zu den Populisten oder gleich zu den ganz Rechten überläuft? Wissen Sie noch, was Sie tun?
Haben Sie nicht begriffen, dass diejenigen, die diese Funktion auf keinen Fall bekommen sollten, eben genau ein Deutscher oder Franzose sind, beziehungsweise eine Französin oder Deutsche? Sehen Sie nicht, dass noch mehr Europäer diesem Europa den Rücken zukehren werden, wenn eine Deutsche Kommissionspräsidentin wird, noch dazu eine ihnen kaum bekannte, nichts sagende, blasse Politikerin, die niemand mit Europa in Verbindung gebracht hätte, bevor Sie sie ins Spiel brachten?
Sicher hätte Brigitte Bierlein es viel höflicher und diplomatischer sagen müssen, wenn sie es denn überhaupt gesagt und einen Österreicher, zum Beispiel Franz Fischler, vorgeschlagen hätte. Er wäre zwar mit seinen 72 Jahren nicht zu alt, um dieses Amt wenigstens eine Funktionsperiode auszuüben und mit seinem Insiderwissen als ehemaliges Kommissionsmitglied, andererseits aber in dieser Hinsicht nur mit Heinz Fischer vergleichbarer Grand Old Man seines Landes, der ideale Kandidat gewesen. Aber er wäre ja nur ein Beispiel dafür gewesen, dass es auch andere Möglichkeiten gab.
Wer immer von einem kleinen EU-Land in diesem Moment ins Spiel gebracht worden wäre, hätte die Versammlung aufgeweckt und veranlasst, über Macrons Vorschlag kritischer nachzudenken und sich auf die Suche nach einer Persönlichkeit ähnlicher Statur in einem der die EU nicht dominierenden Länder zu begeben. Genau dies hätte nämlich von Anfang an geschehen müssen, wenn den Regierungschefs die Akzeptanz der EU wichtig ist. Verpasst, vorbei.
15.6.
Sätze, Sprüche, Sager
„Aber die Opposition, wie vage, wie gehaltlos, wie schwach, wie ohnmächtig zeigte sie sich bei dieser Gelegenheit! Sie wußte nicht, was sie wollte, sie mußte das Bedürfnis der Reform eingestehen, konnte nichts Positives vorschlagen, war beständig im Widerspruch mit sich selber und opponierte hier, wie gewöhnlich, aus blöder Gewohnheit des Oppositionsmetiers. Und dennoch würde sie, um letzterm zu genügen, leichtes Spiel gehabt haben, wenn sie sich auf das hohe Pferd der Idee gesetzt hätte, auf irgend eine generöse Rosinante der Theorienwelt, statt auf ebener Erde den zufälligen Lücken und Schwächen des ministeriellen Systems nachzukriechen und im Detail zu chikanieren, ohne das Ganze erschüttern zu können.“
Heinrich Heine, 1843
5.6.
Gab es wirklich keine Alternative?
Keine österreichische Regierung wurde mit solchen Vorschusslorbeeren überhäuft. Man kannte noch nicht einmal alle Namen, schon wurden sie als „Vertreter des österreichischen, um nicht zu sagen, altösterreichischen Beamtenethos“ idealisiert, womit Hans Rauscher im Standard nur dem Ausdruck gab, was in diesen Tagen kein kleiner Prozentsatz der Österreicher, die über Politik nachdenken, denkt. Die drei, deren Namen schon bekannt waren, waren noch nicht ernannt und schon schwebte über ihnen, wer dächte da nicht an den Sektionschef Tuzzi im Mann ohne Eigenschaften, der Nimbus der kakanischen „Hochbürokratie, die dafür sorgt, dass die Blödheiten und Leidenschaften der politischen Besetzungen nicht zu viel Schaden anrichten.“ Ein ganzes Land, konnte man meinen, sei dem Zauber der „qualitätvollen Persönlichkeiten, abseits von den Blendern, Schreihälsen, Parteifunzis, Inkompetenzkönigen und Korruptionssüchtlern“ verfallen. Hatte sie noch gar nicht, die Beamtenregierung, und wollte sie schon für immer behalten.
Alles richtig gespürt, alles wunderschön gesagt, aber deprimierend als leider korrekter Ausdruck einer Zeitstimmung, die sich angesichts einer ungeliebten Wirklichkeit wieder einmal in die Träume von einer heilen Welt flüchtet, an die sie längst nicht mehr glauben kann. Österreich, und leider noch so manches andere Land, erlebt die krachende Widerlegung der Behauptung, jedes habe die Regierung, die es verdient. Was wir eineinhalb Jahre lang hatten, war die Regierung, die der kleinere Teil der Wähler verdiente. Für die anderen hieß es: Mitgefangen, mitgehangen. Und nun? Nun geht die Neuauflage von Türkis-Blau um als Gespenst, und es ist alles andere als unwahrscheinlich, dass es, bei entsprechendem Wahlausgang, aus dem Grabe steigt,
Ja, da sei Gott vor. Aber auf den kann man sich so wenig verlassen wie auf die politische Vernunft von Sebastian Kurz. Er hat die längst überwunden geglaubte christlichsoziale Urangst vor der Sozialdemokratie und allem, was Rot ist, vom Misthaufen der Weltgeschichte geholt und für seine Zwecke adaptiert. Und es sieht nicht so aus, als hätte er etwas gelernt.
Es hätte eine bessere Alternative zur heftig gepriesenen Beamtenregierung gegeben. Österreich verfügt auch in der Politik noch immer über vertrauenswürdige, qualitätvolle Persönlichkeiten mit der Fähigkeit, für Stabilität zu sorgen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg. Für eine Regierung aus Personen aller Parlamentsparteien außer der FPÖ hätte es sehr viel Mut gebraucht. Aber sie hätte die notwendige Mehrheit gefunden und die Geschäfte weiterführen können, ohne sich vor einer Abwahl fürchten zu müssen. So, wie die Beamtenregierung.
Mit einem Unterschied. Sie könnte einem Land im Wahlkampf Kooperationsfähigkeit vorführen. Vor allem die Kooperationsfähigkeit der beiden großen Lager, deren Zusammenarbeit Sebastian Kurz jäh unterbrach und die er offenbar um keinen Preis will. Davon wäre in den nächsten Monaten etwas ausgestrahlt. Ach hätte, bei allem Glück, dass wir ihn haben, Van der Bellen doch Heinz Fischer und Franz Fischler gebeten, bekniet, beschworen, beim Portepee gepackt, an einem solchen Projekt mitzuwirken. Wir könnten dem September etwas ruhiger entgegensehen.
26.5.
Sätze, Sprüche, Sager
„Ist es nicht die hoffnungsloseste und toteste aller Gewissheiten, unter einer Nation zu leben, die durch Schaden dümmer wird?“
Karl Kraus 1920, gefunden im Standard vom 25.5.
24.5.
Sebastian Kurz ruft Pamela Rendi-Wagner an, um ihr vor der öffentlichen Verlautbarung die Namen der neuen Minister mitzuteilen. Und er versäumt nicht, ihr unter die Nase zu reiben, dass er es nicht von sich aus tut, sondern dass ihn der Bundespräsident zu diesem Anruf veranlasst hat. Dieses Detail ist ein weiteres starkes Indiz dafür, dass Hans Rauscher im gestrigen Standard mit seiner düsteren Vermutung, dass Kurz eine weitere Türkis-Blau-Koalition anpeilt (wenn es der Wähler zulässt), richtig liegt. Die Konsequenz daraus: Nicht das Kabinett Kurz, sondern ein erfolgreiches Misstrauensvotum bietet die Garantie für politische Stabilität in den nächsten Monaten. Offenbar denkt Sebastian Kuz keine Minute an die Möglichkeit von Türkis-Rot und an mögliche Abstriche von seiner Agenda. Welchen Schaden er noch anrichten kann, wenn er bis zu den Wahlen im Amt bleibt, welche Weichen in die von der Zusammenarbeit der demokratischen Lager wegführende Richtung er noch stellen kann, ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Er gehört weg, und zwar sofort. Heinz Fischer, hört man, sei für den Kanzlerposten in einer Übergangsregierung nicht zu haben. In diesem Fall plädiere ich für Franz Fischler.
Sätze, Sprüche, Sager
„Eines steht unverbrüchlich fest: alle Österreicher, in welchem Parteilager sie standen, waren in diesen zwei Jahrzehnten nichts anderes als Österreicher.“
Bundeskanzler Leopold Figl am 9. Mai 1946 zum ersten Jahrestag der Befreiung im Österreichischen Nationalrat
22.5.
Ich frage mich, warum der sonst so gescheite ORF-Politologe Peter Filzmaier regelmäßig auf die Abschaffung des Pflegeregresses zurückkommt, wenn er vor Wahlzuckerln warnt. Diese Maßnahme hat viele Familien vor unerträglichen Lasten bewahrt. Die Finanzierungsprobleme einiger Bundesländer beweisen, dass sich die Regierungsparteien in „mormalen Zeiten“ schwerlich dazu aufgeschwungen hätten, obwohl sie überfällig war. Vielen Betroffenenen wird die Abschaffung des Pflegeregresses als die bedeutendste Sozialleistung der Rot-Schwarzen Koalition in Erinnerung bleiben.
Sätze, Sprüche, Sager
„Der Herr Bundeskanzler wird alles machen, um etwas zu tun!“
Andreas Rudas 1997 nach der Ernennung von Viktor Klima zum Regierungschef
21.5.
Wieso lese ich auch in den Qualitätszeitungen ständig, die Wähler hätten 2017 Türkis-Blau zur Mehrheit verholfen? Haben sie das wirklich? Am 15. Oktober 2017 bekam die ÖVP 31,47, die SPÖ 26,86 und die FPÖ 25,97 Prozent der Stimmen. Damit wollten, wie die Dinge nun einmal lagen, 58,33 Prozent eher die Fortsetzung der Großen Koalition und 57,44 Prozent eher Schwarz-Blau. Eine ganz knappe Mehrheit von weniger als einem Prozent für ÖVP und Rot, eine ganz knappe Minderheit für ÖVP und Blau. Die ÖVP-FPÖ-Regierung war eine von zwei Möglichkeiten. Daran sollten wir uns gerade jetzt wieder erinnern. Und die seriösen Zeitungen sollten vorsichtiger mit Formulierungen umgehen, welche die Regierung, die wir für den Moment zum Glück los sind, als Ergebnis einer eindeutigen Wählerentscheidung erscheinen lassen.
20.5.19
Gestern in der Sendung Im Zentrum. Es geht um Strache und das Skandalvideo. Walter Rosenkranz von der FPÖ spricht von einer Verletzung der Privatsphäre. Drei Oppositionspolitikerinnen hören es, keine stellt ihm die Frage, die sofort hätte gestellt werden müssen: Herr Rosenkranz, rechnen Sie ein Treffen, in dem österreichische Politiker mit einer russischen Oligarchin, echt oder nicht, über geheime Parteifinanzierung, die Zuschanzung öffentlicher Aufträge, den Kauf der Kronen-Zeitung und die Manipulation der öffentlichen Meinung verhandeln, tatsächlich der Privatsphäre zu? Ein aufgelegter Elfer. Leider verpasst.
Sätze, Sprüche, Sager
„Ich glaube, die Entwicklung der Menschenrechte verläuft in einem Auf und Ab. Das Tal ist jetzt aber schon sehr lang.“ – „86 Menschen besitzen heute so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Das unterminiert den demokratischen Zusammenhalt.“
Manfred Novak, Völkerrechtler, in Die Furche vom 10.1.19
7.5.18
Andreas Mölzer und Walter Rosenkranz auf der einen Seite, Willi Mernyi, Doron Rabinovici und Heidemarie Uhl auf der anderen gestern Im Zentrum. Zeitweise kaum erträglich. Das alte Dilemma. In unserer offenen Gesellschaft kann man, darf man das Gespräch nicht verweigern. Man muss sich hinsetzen mit Leuten, mit denen man sich, wie die Dinge liegen, sonst nie zusammensetzen würde. Mit Nazis und Antisemiten. Oder mit Leuten, die kein Problem damit haben, sich mit Nazis und Antisemiten gemein zu machen. Wer schon so lange der FPÖ angehört, müsste ja sehr naiv sein, um ihm abnehmen zu können, dass er dort die Berührung mit Nazis und Antisemiten vermeiden konnte und dass ihn die ernsthaft stört. Rosenkranz und Mölzer bewiesen, auf welcher Seite eines Grabens sie stehen, über den hinweg auch zwei Menschenalter nach der Befreiung ein Gespräch weder möglich noch sinnvoll ist. Zwischen Demokratie und Humanität auf der einen Seite und einem politischen Lager, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Sammelbecken der unverbesserlichen Nazis konstituierte, ist offensichtlich nach wie vor nur eine klare Gegnerschaft sinnvoll und möglich. Die beiden haben es bewiesen, und wenn der Abend etwas gebracht hat, ist es, sollte jemand noch daran gezweifelt haben, diese Erkenntnis.
Da behaupten zwei, mit dem Antisemitismus nichts, aber auch schon gar nichts am Hut zu haben. Wollen allen Ernstes, dass man ihnen ihr Entsetzen über die Naziverbrechen abnimmt. Und dann widerlegt sich der eine, Rosenkranz, selbst mit einer Körpersprache und einer dreisten Aggressivität, wie wir sie von den alten Nazis und Neonazis kennen. Beide wollen uns davon überzeugen, dass die FPÖ entschlossen sei, ihren alten Naziballast abzuwerfen, dessen Vorhandensein abzustreiten ihnen schwer fallen würde, weshalb sie es gar nicht erst versuchen. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, wäre ihnen Michael Köhlmeiers Rede zu Herzen gegangen und sie hätten sich bei ihm bedankt. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, wären sie der Gedenkveranstaltung in Mauthausen aus Taktgefühl von selbst ferngeblieben und hätten versichert, all ihr Bemühen sei darauf gerichtet, sich einer solchen Einladung würdig zu erweisen und sie würden um Geduld bitten. Wäre es ihnen ernst mit ihrem Abscheu vor den Naziverbrechen, würde Rosenkranz an der Seite Mernyis, Rabinovicis und Uhls die Haltung bekämpfen, die er heute einnimmt, und Mölzer würde, wie einst der große katholische Publizist und geläuterte ehemalige Antisemit Friedrich Funder, den Herrgott bitten, in der Ewigkeit nicht noch einmal alles lesen zu müssen, was er geschrieben habe.
Sie sind, was sie waren. Darauf, was sie waren, darf man aus ihrer langjährigen Zugehörigkeit zu einer Partei schließen, in der es von Nazis und Antisemiten wimmelt(e). Und sie haben sich nicht geändert. Das haben sie, von Willi Mernyi, Doron Rabinovici und Heidemarie Uhl fast durchgängig mit eiserner Ruhe vorgeführt, gezeigt.
Ja, und übrigens. Was hat denn H. C. Strache nun wirklich bei der Kranzniederlegung beim Republik-Denkmal bei der Wiener Abertina gesagt? In der Zeit im Bild war es zu hören: „Ich verneige mich vor all jenen, die in dieser Zeit ein furchtbares Schicksal tragen mussten und schon die Erinnerungen an diese Zeit schlagen unvergesslich tiefe Wunden.“ Fast mit den gleichen unverbindlichen Worten verneigten sich schon in der frühen Nachkriegszeit FPÖ-Politiker (leider nicht nur sie), wenn sie sich um keinen Preis expressis verbis vor Juden, Nazigegnern, Roma und so weiter verneigen wollten. Solche Worte kann jeder verstehen, wie er will. Wer will, kann alles mitdenken, bis hin zu den in Oradour-sur-Glane tätigen Männern des SS-Panzergrenadier-Regiments 4 Der Führer. Genau diese Art von Verneigungen ist längst ein Code geworden, fast wie 88.