Bernhard Herrman und Robert Streibel recherchierten die Vergangenheit der Winzergenossenschaft Krems
Jahrzehnte ist‘s her. In der Pause einer Historikertagung fragte ich einen prominenten deutschen Univ-Prof, warum damals über die unbedeutendsten Details des Dritten Reiches Dissertationen geschrieben wurden, aber kaum eine über die Nicht-Aufarbeitung der Nazizeit nach dem Krieg. Er hielt mich – ich hatte gerade ein Referat über den Wert des Gerichtssaalberichtes als historische Primärquelle gehalten – wohl für Seinesgleichen, denn er meinte: „Ach, Herr Kollege, ein solches Thema kann ich nur einem besonders guten Studenten geben, und gerade dem will ich doch nicht die Karriere versauen!“
Peng. Da hatten wir‘s. Die Deutschen waren im Verdrängen und Vergessen nicht schlechter als wir, bloß die Abfolge der Phasen sah etwas anders aus. In Österreich braucht man nur in den Zeitungen der frühen Nachkriegszeit zu stöbern, um auf eine stolze Anzahl bis heute bekannter Unternehmen zu stoßen, die entweder in den Händen ihrer Arisierer blieben – oder in die falschen Hände fielen, denn die Gierigen waren auch 1945 zur Stelle. Es genügte, sich der Rückgabe des geraubten Gutes zwei, drei Jahre lang zu entziehen – später brauchten sich die Diebe und Räuber keine großen Sorgen mehr zu machen. Das alles wurde schnell unter den Teppich gekehrt, wo es Ruhe gab, bis der Teppich sich endlich zu wellen und aufzuquellen begann.
Vor diesem Hintergrund spielt der Roman Der Wein des Vergessens von Bernhard Herrman und Robert Streibel. Was sie uns servieren, hätte eigentlich längst getrunken werden sollen. Es hat eine deutliche Note von Djinn aus der Flasche und einen langen Abgang. Dieser Roman ist nämlich kein Roman, sondern ein Herrmans geerbten Briefen, Tagebüchern, Dokumenten und Fotos, alles in einer versperrten Metallkassette, und den zusätzlich rercherchierten Fakten entlang geschriebener Tatsachenbericht.
Es waren einmal zwei Freunde, ein schwules Paar, würde man heute sagen, doch das hielten sie wohlweislich streng geheim. Ihre Liebe war von einer Stärke und Beständigkeit, wie sie uns sonst eher nur im Groschenroman begegnet. Der eine, Paul Robitschek, war ein seriöser jüdischer Weinhändler, der österreichischen Wein in alle Welt exportierte und Eigentümer der berühmten Weinlage Kremser Sandgrube nebst Kellerei. Der andere, August Rieger, der „Herr Baron“, war ein charmanter, aber windiger, etwas hochstaplerischer, auf großem Fuß lebender Typ mit riesigen Schulden, der gelegentlich vom Freund aus der Patsche gezogen wurde, und kein Jude. Die dritte im Bunde, Erszi Farkas, spielte fallweise die Anstandsdame.
Das Idyll wurde 1938 jäh gestört. Erszi brachte sich um, Robitschek floh zunächst nach Italien und weiter nach Frankreich und hielt sich mit Mühe und Not über Wasser. Rieger kam immer wieder mit seinen zurückgelassenen Sachen und Lebensmitteln zu ihm und da er Robitscheks Betrieb samt Sandgrube übernommen hatte, könnte die Geschichte als einer der selteneren Fälle enden, in denen Emigranten mit der Hilfe Anständiger wieder zu ihrem Eigentum kamen.
Wäre da nicht der Kremser Franz Aigner gewesen. Der träumte schon lang von der Gründung einer Winzergenossenschaft mit der Sandgrube nebst Keller als Herzstück und ihm als Chef. Und da er mitbekommen hatte, was niemand wissen sollte, vernaderte, auf Hochdeutsch: verpfiff er Rieger als Homosexuellen und Liebhaber eines Juden.
Auch die Häftlinge mit dem rosa Winkel an der Jacke, die Homosexuellen, starben zu Tausenden. Im Roman fällt auch Licht auf ein unterbelichtetes Thema: Der NS-Staat war alles andere als im Sinne der Nazis konsequent durchstrukturiert. In vielen Behörden, auch in der Polizei, hatten Nazigegner überlebt. Robitschek und Rieger hatten einen solchen Bekannten in der Wiener Polizei, und sehr viel Glück. Er kam zufällig dazu, als sie zum Verhör geführt wurden und konnte sie vor dem KZ bewahren. Rieger wuchs nach Robitscheks Flucht bei der Verteidigung von dessen Interessen über sich selbst hinaus, aber Robitscheks Betriebe waren nicht zu retten. Rieger überlebte den Krieg in Wien, Robitschek konnte, schwer angeschlagen, in Venezuela Fuß fassen. Er wurde nach dem Krieg teilweise entschädigt, wirklich entschädigt, wie üblich, nie.
Bis hierher eine von vielen solchen und ähnlichen Geschichten, bewegend erzählt, nicht ohne Schmalz, das hier seinen Platz hat, denn auch die Selbstzeugnisse der Liebenden sind alles andere als frei von Sentimentalität. Herausragend durch ihre Offenheit, die auch die Brüche und Abgründe nicht umgeht. Ein überaus lesenswertes Panorama denkwürdiger Schicksale aufrechter Menschen, deren noch einige mehr vorkommen. Brennende Aktualität könnte man – bis hierher – dem Buch freilich nicht bescheinigen. Zu groß ist die Zahl österreichischer Unternehmen mit einem fetten braunen Fleck in ihrer Chronik. Dazu sagen heute Millionen: Na und? Geschichte!
Und doch ist Der Wein des Vergessens ein Buch von brennender Aktualität. Die verdankt es dem Anruf von Franz Ehrenleitner, dem Geschäftsführer der Winzergenossenschaft Krems, beim Historiker Robert Streibel, der ihn mit drei e-mails um ein Gespräch gebeten hatte, um ihn über das Buchvorhaben und das Ergebnis der Recherchen zu informieren.
Ich gebe, was er „im Befehlston“ zu hören bekam, in voller Länge wieder, so, wie im Buch zitiert: „Lassen Sie uns endlich damit in Ruhe! Ich will Ruhe, ein für alle Mal! Wir haben darüber nichts zu sagen, ich will mich damit nicht beschäftigen, ich bin ein christlich denkender Mensch, ich habe viel Gutes getan, ich blicke in die Zukunft. Ich fordere Sie auf, uns in Ruhe zu lassen! Wenn Sie das nicht tun, werden wir unsere Schritte unternehmen! Wir blicken in die Zukunft. Wir sollten selbstbewusster sein, wir Österreicher. Immer schauen wir in die Vergangenheit. Ich weiß, dass alles für rechtens erklärt wurde, und das ist es. Wen interessiert das? Mich nicht. Es ist schon viel, dass ich Sie anrufe. Ich will mich nicht mit Ihnen treffen. Was soll das für einen Sinn haben? Warum? Ich habe dafür keine Zeit. Ich bin 1954 geboren. Wer gibt mir meine beiden Onkel zurück, die im Krieg gefallen sind? Mein Vater ist schwer krank aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, das ist emotional für mich. Es gibt keine Zeitzeugen, die wirklich wissen, wie es gewesen ist, aber ich sage Ihnen, ich werde mit Ihnen nicht sprechen und mich auch nicht mit Ihnen treffen, und kein Mitarbeiter der Winzer Krems wird mit Ihnen sprechen. Ich muss nicht über diese Dinge sprechen, mich interessieren auch keine Tätowierungen, auch wenn viele Menschen heute tätowiert sind. Und wenn ich nichts über die Homosexuellenehe sagen will – bin ich deswegen ein schlechter Mensch? Ich bin kein Politiker, ich muss nichts sagen und ich will nichts sagen. Manche Dinge kann ich nicht ändern, und wenn ein Erdrutsch in Chile ist, werden wir mit solchen Meldungen bombardiert.“
Und auf den Einwand, eine solche Gesprächsverweigerung könne doch die Winzer Krems in einem schlechten Licht erscheinen lassen: „Wir haben auch den Weinskandal überlebt und hatten gar nichts damit zu tun gehabt. Ich bin nicht verantwortlich für das, was passiert ist. Punkt! Aus! Lassen Sie uns in Frieden! Es geht doch immer um Wiedergutmachung, um Zahlungen! Das ist doch immer so, da müssen dann die Firmen zahlen. Lassen Sie uns in Frieden. Wen interessiert das heute?“
Das ist großartig! Das könnte stellenweise von Thomas Bernhard sein! So deutlich, so direkt, fast hätte ich gesagt: mit solcher geradezu literarischer Dichte, hat sich die Weltsicht, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind, noch selten deklariert. Und das, laut eigener Website, vom „Denker und Lenker“ eines international renommierten österreichischen Unternehmens und Träger des Ehrenringes der Sadt Krems. Da erfährt man, wie Schichten, auf die es ankommt, nach wie vor denken und sich selbst in solcher Position wieder trauen, es zu sagen. Das gehört, kommentiert, unbedingt in die Schulbücher!
Offenbar kamen die Winzer Krems doch noch drauf, was da passiert war und vergaben einen Forschungsauftrag zur Erhellung iher Geschichte. Und, politisch korrekt, wie man jetzt plötzlich ist, auch noch an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes.
Zu spät. Und wirklich: Wozu noch?
DER WEIN DES VERGESSENS – Roman von Bernhard Herrman und Robert Streibel. Residenz Verlag, 2018. 254 Seiten, 24 Euro.