Wer war Adam Smith? Wem sagt dieser Name noch etwas, außer den Volkswirtschaftlern, die sich auf ihn berufen, ihn aber wahrscheinlich meistens auch nicht gelesen haben? Hat er noch eine echte Bedeutung?
Adam Smith ist für die Volkswirtschaftslehre fast so etwas wie Isaac Newton für die Physik. Die Grundlage. Basis eines Lehrgebäudes. Allerdings mit zwei kleinen Unterschieden. Newtons Gesetze verloren ihre universelle Geltung. Durch die Relativitätstheorie wurde der Bereich, in dem sie gelten, eingegrenzt und neu definiert. Eine Überprüfung der Aussagen von Adam Smith auf ihre ungebrochene Gültigkeit ist zwar längst überfällig, bisher aber höchstens in Ansätzen erfolgt.
Außerdem kann man Newton verstehen oder nicht verstehen, aber schwerlich missverstehen. Adam Smith hingegen hat zwar jahrelang darum gerungen, sich so deutlich wie möglich auszudrücken, hat diktiert und immer wieder gestrichen und neu formuliert. Seine lebendige, kraftvoll zupackende Sprache ist das Ergebnis unendlicher Mühe. Trotzdem blieb vieles dunkel und verwirrend. Dies hat es erleichtert, ihn misszuverstehen, und zwar meistens absichtsvoll. Er ließ keinen Zweifel daran, dass die ethischen Grundlagen jeden wirtschaftlichen Handelns für ihn eine Selbstverständlichkeit darstellten und dass er mit seiner Sympathie auf der Seite der Schwachen stand. Er war für den freien Markt und für den freien Welthandel, betonte aber, dass der Staat gegen Auswüchse allzu freien Wirtschaftens sehr wohl eingreifen müsse. Trotzdem wurde und wird er zur Rechtfertigung selbst des krassesten Egoismus und der schrecklichsten Ausbeutung missbraucht. Das Bild Adam Smiths als Schutzpatron egoistischen Handelns, und das auch noch mit einem gutem Gewissen, sitzt auch in vielen wohlmeinenden Köpfen.
Der Grazer Philosophieprofessor Gerhard Streminger bläst den Nebel der Missverständisse, der diese singuläre Gestalt eintrübt, mit mächtiger Puste fort. Wenn sein neues Werk Adam Smith – Wohlstand und Moral eine Schwäche hat, dann bloß die, dass es leider wahrscheinlich zu wenig gelesen werden wird. Dabei kann man es jedem, der beim Durchsehen der Zeitung einen Blick in den Wirtschaftsteil wirft, und sei es auch nur ein flüchtiger, wärmstens ans Herz legen.
Allen anderen übrigens auch, denn Streminger schrieb nicht nur die Biographie eines intellektuellen Giganten, sondern auch eines höchst seltsamen Originals, das mit seiner notorischen Zerstreutheit die lustigsten Geschichten lieferte. Laut mit sich selbst redend dahinzuschreiten und dabei in die Luft blickend gelegentlich irgendwo hineinzufallen, war nur eine seiner Spezialitäten. Darüber, dass er, ins Gespräch mit dem Herzog von Buccleuch vertieft, sein mit Butter bestrichenes Sandwich in der Teekanne mit heißem Wasser aufgoss und sich dann über den Geschmack des Tees wunderte, dürfte sich die Londoner Gesellschaft sehr amüsiert haben.
Seine Freunde haben sich oft über ihn gewundert. Zum Beispiel über sein phänomenales Gedächtnis und seine „Fähigkeit, auch in Phasen höchster Konzentration Vorgänge um sich wahrnehmen zu können. Oft erzählte er … Jahre später, worüber sie sich unterhalten hatten, während diese überzeugt waren, der zerstreute Herr Professor wäre wieder einmal geistig ganz woanders.“
Der Adam Smith, der in Stremingers Buch zum Vorschein kommt, ist der verdrängte, systematisch vernachlässigte Adam Smith, der den heutigen Marktradikalen so gar nicht in den Kram passt. Darin liegt die Wichtigkeit und widerborstige Aktualität dieser auf genauer Kenntnis der Quellen beruhenden Biographie, in welcher ein streitbarer Geist vehement Stellung bezieht.
Für den Adam Smith, der sich als „überaus mitfühlender Mensch … in den verschiedenen neoliberalen Clubs, die ihn ehrfurchtsvoll zum Säulenheiligen erkoren haben, kaum wohlgefühlt“ hätte. Für den Adam Smith, für den Wohlstand „nur auf der Basis ethischen Verhaltens möglich“ war, gegen die Position österreichischer und der Chicago-Ökonomen, „wonach es angeblich zum Wohle aller sei, wenn wir sämtliche Schleusen öffnen und alle Grenzen fallen lassen.“ Wenn er schon schubladisiert werden müsse, dann als „liberal im Sinne der sozialen Marktwirtschaft und nicht im Sinne des neoliberalen Gesellschaftsverständnisses, das große Teile der heutigen Wirtschaftspolitik bestimmt.“
Eine Kritik der ökonomischen Aussagen Adam Smiths bzw. eine Überprüfung ihrer Gültigkeit unter den heutigen Bedingungen darf man von einer Biographie nicht erwarten. Es ist daher nur zu verständlich, wenn Streminger in Adam Smith den Mann sieht, der den „Dritten Weg zwischen Raubtierkapitalismus und Planwirtschaft … schon längst gefunden“ hat, „und das vor einem Vierteljahrtausend.“
Genau das war Adam Smith allerdings nicht. Er hat sich nämlich gründlich geirrt, als er die Arbeitsteilung zum Motor des Fortschritts erhob, während in der Spinnerei des Unternehmers Arkwright bereits ein Arbeiter mehrere Maschinen bediente, womit die Entwicklung einen völlig anderen Weg eingeschlagen hatte. Mit der händischen Herstellung, bei der ein Mann den Draht zog, ein anderer ihn in Stücke schnitt und ein dritter den Kopf der Stecknadel formte, wie wir es so schön bei Adam Smith lesen, hatte die Arkwright‘sche Fabrik nicht mehr viel Ähnlichkeit. Smith erlebte noch, wie sich die Dampfmaschine anschickte, anstelle der Arbeitsteilung zum Motor des Fortschritts zu werden, hat aber nicht mehr darauf reagiert.
Er konnte nichts dafür, dass alle Welt meinte, mit seinem Wohlstand der Nationen sei alles gesagt, was über das Funktionieren der Wirtschaft zu sagen sei, und dass er zum Musterbeispiel dafür wurde, wie eine überlebensgroße Gestalt weiterer Erkenntnis im Wege stehen kann. Doch das ist eine andere Geschichte. Die Geschichte von den auf Adam Smith fixierten Ökonomen, die seit 250 Jahre dogmatisch an längst von der Wirklichkeit widerlegten Thesen festhalten.
Seine ungebrochene Bedeutung verdankt Adam Smith seinem humanen Liberalismus, seinem für die Zeit, in der er lebte, revolutionären sozialen Engagement und einer Fülle nach wie vor aktueller ökonomischer Einsichten. Damit übersteht er mühelos die Korrektur der Punkte, in denen er sich geirrt hat und die Weiterentwicklung des ökonomischen Denkens. Die Geschichte dieses Adam Smith wird von Gerhard Streminger souverän, liebevoll, mit vielen neuen Einzelheiten und durchaus unterhaltsam erzählt. Ich habe viel zu viele Bücher, aber dieses bleibt in meiner Nähe.
ADAM SMITH – WOHLSTAND UND MORAL von Gerhard Streminger. C. H. Beck Verlag, München 2017. 254 Seiten, 25,70 Euro (Ö)
Eine außerordentlich zutreffende und schöne Rezension!